Autor: Heike Bohnes

So finanziert die Kasse mehr Entlastungsleistungen

Bereits im Mai diesen Jahres habe ich auf die Möglichkeit hingewiesen, 40 % der Pflegesachleistungen in Entlastungsleistungen umzuwandeln.

Ende des Jahres sind die „fetten Zeiten“ mit Hilfe der angesparten Betreuungsleistungen aus den Jahren 2015 und 2016 vorbei. Diejenigen, die die angesparten Leistungen aus den Jahren 2015 und 2016 bis zum 31.12.2018 nicht aufgebraucht haben, verlieren ihren Anspruch. die Beträge verfallen unabhängig von ihrer Höhe.

Wer dann auch keinen Ansparbetrag aus dem Jahr 2018 mehr zur Verfügung hat, mag denken, dass er oder sie mit den 125 € monatlich auskommen muss, die für Entlastungsleistungen vorgesehen sind. Das ist aber nicht der Fall.

So wandeln sie Pflegesachleistungen in Entlastungsleistungen um

Die Umwandlung der Pflegesachleistungen in Entlastungsleistungen erfolgt nur auf Antrag. Eine zwingende Voraussetzung ist, dass die Pflegesachleistungen nicht für die Pflege gebraucht werden. Denn im Rahmen der Entlastungsleistungen dürfen keine Pflegeleistungen erbracht werden.

Wichtig zu wissen

  1. Sie können nur 40 % der Pflegesachleistungen als Entlastungsleistungen umwandeln. Das heißt, bei Pflegegrad 2 sind das 275,60 € moantlich. Ihnen stehen dann also 400,60 € für Entlastungsleistungen zur Verfügung.
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  2. Wenn Sie die Pflegesachleistungen in Entlastungsleistungen umwandeln, beziehen sie die Kombinationsleistung. Das heißt, Sie erhalten nicht mehr 100 % des Pflegegeldes, sondern ein anteiliges Pflegegeld. Bei Pflegegrad 2 erhalten sie, wenn Sie 40 % der Pflegesachleistung nutzen, also nur noch 60 % des Pflegegeldes, das sind 189,60 €.
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  3. Sie müssen die Umwandlung der Pflegesachleistung bei Ihrer Pflegekasse ausdrücklich beantragen.
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  4. Sie können die Umwandlung auch beanspruchen, wenn sie die Entlastungsleistungen im Rahmen der Nachbarschaftshilfe nutzen.
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  5. Sie können frei entscheiden, ob Sie den Entlastungsbetrag von 125 € monatlich ansparen und monatlich die 40 % der Pflegesachleistung nutzen. Dann können sie den angesparten Entlastungsbetrag bspw. für die Fahrkosten oder Unterkunft und Verpflegung in der Tagespflege oder für die Kurzzeitpflege nutzen.

Hinweis: Weitergehende Informationen zum Entlastungsbetrag erhalten Sie auch hier: So können Sie den Entlastungsbetrag nutzen

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Urteil: Kein Anspruch auf Pflegegeld am 1. des Monats

Das Sozialgericht Gießen hat in einem aktuellen Beschluss festgestellt, dass Versicherte keinen Anspruch darauf haben, dass das Pflegegeld zum 1. des Monats auf ihrem Konto ist.

Zunächst stellte das Gericht fest, dass das SGB XI keine ausdrückliche Regelung enthalte, wann das Pflegegeld fällig ist. Deshalb müsse auf die allgemeinen Regelungen in §§ 41, 40 Abs. 1 SGB I zurückgegriffen werden. Danach würden Ansprüche auf Sozialleistungen mit ihrem Entstehen fällig, wenn die entsprechenden Sozialgesetze keine anderen Regelungen  enthielten.

Die Fälligkeit des Pflegegeldes hänge deshalb davon ab, wann die gesetzlich genannten Leistungsvoraussetzungen (der Pflegegrad) vorliegen. Das Bundessozialgericht habe entschieden, dass der Anspruch jeweils am Anfang und nicht am Ende eines Kalendermonats fällig werde. Das allerdings heiße noch lange nicht, dass die Leistung genau am 1. des jeweiligen Monats auf dem Konto des Leistungsempfängers sein müsse.
Der fristgerechte Überweisungsauftrag sei nicht davon abhängig, wann die Leistung beim Leistungsempfänger ankomme, sondern, wann die Leistung angewiesen werde.

Das heißt, die Pflegekasse kommt ihrer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Pflegebedürftigen fristgerecht nach, wenn sie das Pflegegeld am 1. eines Kalendermonats anweist.

Hinweis: Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 12.10.2018 ist noch nicht rechtskräftig. Sie finden es unter dem folgenden Aktenzeichen: S 7 P 23/18

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Schon gewusst? Was Sie zur Widerspruchsfrist wissen müssen

Wenn es um die Widerspruchsfrist gegen einen Bescheid der Pflegekasse (oder eine andere Körperschaft des öffentlichen Rechts, wie einer Behörde) geht, gibt es viele Irrtümer.
Der wohl verbreitetste Irrtum: die Widerspruchsfrist sei 4 Wochen.
Das ist falsch! Zudem ist eine solche Auskunft zum Nachteil des Widerspruchberechtigten!

Die Widerspruchsfrist gegen einen Bescheid beträgt immer 1 Monat. So steht es auch in der vorgeschriebenen  Rechtsmittelbelehrung, die der Bescheid enthalten muss.

Tipp: Hat die Kasse (oder Behörde) die Rechtsmittelbelehrung vergessen, verlängert sich die Widerspruchsfrist. In diesem Fall beträgt die Widerspruchsfrist 1 Jahr.

Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, ab wann denn die Widerspruchsfrist berechnet wird.
Gut ist es, wenn Sie den Briefumschlag, in dem Ihnen der Bescheid zugestellt wurde, aufbewahren. Zudem sollten Sie den Empfangstag auf dem Bescheid notieren. Zumeist erfolgt die Zustellung ein- bis drei Tage nach dem Poststempel (je nach dem, ob ein Wochenende oder Feiertag dazwischen liegt).
Haben Sie es versäumt, sich das Zustellungsdatum zu merken und den Briefumschlag weggeworfen, müssen Sie die Frist „berechnen“.
Bei dieser Berechnung der Widerspruchsfrist müssen Sie von der so genannten Zustellungsfiktion ausgehen. Das heißt, drei Tage, nachdem der Bescheid von der Behörde zur Post gegeben wurde (also de facto, Bescheiddatum plus vier Tage, denn der Tag an dem der Brief zur Post gegeben wird, zählt nicht mit), beginnt die Widerspruchsfrist.

Beispiel: Ist der Bescheid vom 13.11.2018, so beginnt die Widerspruchsfrist am 17.11.2018. Der Widerspruch muss also bis spätestens zum 17.12.2018 eingereicht worden sein.
Bei Sonn- und Feiertagen gilt: Wäre der Bescheid vom 14.11.2018, so würde die fiktive Zustellung am 18.11.2018 erfolgen, was aber nicht geht, da der 18.11.18 ein Sonntag ist (gleiches gilt bei gesetzlichen Feiertagen). Dann beginnt die Widerspruchsfrist am 19.11.18, also dem auf den Sonntag (bzw. Feiertag) folgenden Tag. Der Widerspruch muss also bis spätestens zum 19.12.2018 eingereicht worden sein.

Etwas anderes gilt, wenn Sie einen späteren Zugang des Bescheides definitiv nachweisen können.

Hinweis: Die einmonatige Frist für den Widerspruch gilt auch für Klageverfahren. Das heißt, nach einem Widerspruchsbescheid, haben Sie einen Monat Zeit, Klage gegen diese Entscheidung einzureichen.

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Was läuft denn falsch beim neuen Begutachtungssystem?

Irgendetwas muss falsch laufen, bei dem neuen Begutachtungssystem. Denn die meisten Widersprüche meiner Kunden im letzten und auch in diesem Jahr waren erfolgreich.

Das liegt nicht allein an meiner guten Argumentation – schön wär’s.
Nein, es läuft etwas falsch in den Begutachtungen.
Die Widerspruchsbegründungen bringen es ans Tageslicht: Gutachter erkennen Einschränkungen nicht, weil Demenzerkrankte in dem kurzen Zeitraum der Begutachtung hervorragende Fassaden der Normalität aufbauen und konfabulieren können. Oder die Gutachter übersehen Hilfebedarf, weil sie nicht wirklich genau hinschauen.
Doch von Gutachtern, die Pflegefachkräfte sind, müsste man erwarten, genau diese Sachverhalte zu erkennen. Tatsächlich begutachtet aber jeder Gutachter anders – es menschelt also weiterhin und das nicht immer zum Vorteil der Versicherten.

So lange die Gutachter der medizinischen Dienste nicht sachgerecht und patientenorientiert begutachten, erhalten mindestens 50 % der Hilfebedürftigen nicht die ihnen zustehenden Hilfen.
Und solange die Kassen ihre Versicherten nur halb aufklären, nutzen die richtig eingestuften Pflegebedürftigen nur einen Teil der Hilfen, die ihnen zustehen.
Dabei mag es sein, dass die Kassen ihrer Informationspflicht formal (durch Briefe, mit Buchstabenlawinen) nachkommen, aber Beratung – also Aufklärung über Ansprüche muss anders aussehen.

Deshalb möchte ich hier noch einmal ausdrücklich dazu aufrufen, sich gegen falsche Entscheidungen der Kassen zu wehren:

  • Lassen Sie das Einstufungsgutachten von einem Profi prüfen, wenn Sie unsicher sind, ob der Pflegegrad tatsächlich der richtige ist.
  • Bestehen Sie auf einer persönlichen Pflegeberatung. Lassen Sie sich bei vorhandenem Pflegegrad nicht abwimmeln, wenn der Sachbearbeiter Ihrer Kasse behauptet, sie müssten dazu einen Höherstufungsantrag stellen. Sie und Ihre Angehörigen haben Anspruch auf eine Pflegeberatung, auch ohne Höherstufungsantrag.
  • Wehren Sie sich, auch mit einem Widerspruch, wenn Sie feststellen, dass Entscheidungen der Kranken- und Pflegekasse falsch sind. Sie sind Versicherter und kein Bittsteller!

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Schon gewusst? Zusätzliche Zahn-Vorsorgeuntersuchung für Demenzerkrankte

Seit dem 01. Juli dieses Jahres haben Demenzerkrankte Anspruch, auf zusätzliche Vorsorgemaßnahmen beim Zahnarzt, die die Krankenkasse bezahlt.

Voraussetzung nach § 22 a SGB V ist jedoch, dass mindetsens Pflegegrad 1 vorliegt, oder dass der Erkrankte Leistungen der Eingliederungshilfe erhält.

Zu den Vorsorgemaßnahmen gehört die  Erhebung des Mundgesundheitsstatus und die Erstellung eines Plans zur Mund- und / oder Prothesenpflege, sowie die Aufklärung über die richtige Zahn- und Prothesenpflege, sowie Mundhygiene. Ebenfalls gehört zur Leistung, dass harte Zahnbeläge entfernt werden.
Die Pflegeperson soll vom Zahnarzt in die notwendigen Aufklärungsgespräche einbezogen werden.

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Schon gewusst? Den Strom für notwendige Hilfsmittel zahlt die Kasse

Wenn Pflegebedürftige auf ein Hilfsmittel angewiesen sind, das mit Strom betrieben wird, etwa eine Wechseldruckmatratze, dann muss die Kasse auch für die Stromkosten des Hilfsmittels aufkommen. Voraussetzung ist, dass die Pflege- oder Krankenkasse das Hilfsmittel zur Verfügung gestellt hat.

Schon seit 1997 steht fest, dass die Stromkosten für Hilfsmittel, wie z. B. E-Rolli, Beatmungsgerät, Inhalator, Absauggerät oder elektrisches Pflegebett von der Kasse bezahlt werden müssen. Das Bundessozialgericht entschied (BSG, Az: 3 RK 12/96), dass der Anspruch auf ein Hilfsmittel alles beinhaltet, was erforderlich ist, damit der Versicherte dieses Hilfsmittel bestimmungsgemäß nutzen kann.

Die Stromkosten, die dem Versicherten durch das Hilfsmittel entstehen, werden anhand der täglichen Betriebszeit und Wattzahl des Gerätes, der Anzahl der Nutzungstage pro Jahr und den Kosten für ein Kilowatt Strom berechnet. Die Stromkosten muss der Versicherte beantragen. Die Kasse zahlt das Geld in der Regel nicht von sich aus. Allerdings haben manche Kassen Formulare für den Antrag. Wenn Ihre Kasse kein Formular zur Verfügung stellt, können Sie den Antrag auch formlos, also mit einem Anschreiben, stellen. Bei einer Ablehnung des Antrages lohnt in jedem Fall ein Widerspruch.

Tipp: Wenn Sie ein elektrisch betriebenes Hilfsmittel haben und von Ihrer Kasse bisher keine Stromkosten erstattet bekommen haben, dann können Sie die Kosten bis zu vier Jahre rückwirkend beantragen.

Sollten Sie Hilfe bei Ihrem Antrag oder Widerspruch benötigen, rufen Sie mich einfach unter 0241 8 87 42 64 an.
Im Falle eines erfolgreichen Widerspruchs trägt die Kasse auch die Kosten für den Widerspruch.

 

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Das zahlt die Kassse zum Hausnotruf

Versicherte, die mindestens in Pflegegrad 1 eingestuft sind, haben Anspruch auf die Finanzierung von Pflegehilfsmitteln, wie dem Hausnotruf.

Ein Hausnotruf oder Notrufsystem wird an den Telefonanschluss angeschlossen. In der Wohnung wird ein Empfangsgerät installiert und der Pflegebedürftiger erhält einen tragbaren Notrufsender. Der Notrufsender kann wahlweise an einer Kette oder am Handgelenk getragen werden. Im Notfall, etwa bei einem Sturz, kann der Pflegebedürftige mit dem Notrufsender einen Hilferuf absetzen und Hilfe anfordern. Der Hausnotruf soll vor allem alleinstehenden, Pflegebedürftigen ermöglichen, über den Notrufknopf schnell und unkompliziert Hilfe anzufordern.

Die Pflegekasse übernimmt die Kosten für einen Hausnotruf aber nur unter den nachfolgenden Voraussetzungen:

  • es muss eine Einstufung mindestens in Pflegegrad 1 bestehen.
  • der Pflegebedürftige lebt allein, oder ist über weite Teile des Tages alleine, etwa wenn der Mitbewohner arbeiten geht.
  • der Pflegebedürftige kann mit handelsüblichen Telefonen in Notsituationen keinen Hilferuf absetzen.
  • mit dem Eintritt einer Notsituation kann krankheitsbedingt jederzeit gerechnet werden.
  • der Hausnotrufanbieter muss mit der Pflegekasse einen Versorgungsvertrag haben.

Seit dem 01.06.2018 übernimmt die Pflegekasse keine Anschlussgebühr mehr. Sie bezuschusst die monatlichen Mietkosten jedoch mit 23,00 € (bis zum 31.05.2018 wurden monatlich nur 18,36 € / Monat von der Kasse gezahlt).
Die Kosten werden von der Pflegekasse direkt an den Leistungserbringer erstattet.

Tipp: Die Hausnotrufanbieter kommen in der Regel gerne zu Ihnen nach Hause und beraten Sie umfassend zu den Möglichkeiten und der Kostenübernahme. Am besten lassen Sie sich von mehreren Anbietern je ein Angebot machen. Lassen Sie sich nicht zu einer Unterschrift drängen, sondern bitten Sie grundsätzlich um Bedenkzeit, bevor Sie einen Vertrag unterschreiben.

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Schon gewusst? Sie können die Zuzahlunsgbefreiung auch nachträglich beantragen

Wenn Ihre Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln sowie Verordnungen des vergangenen Jahres Ihre individuelle Belastungsgrenze überschritten haben, können Sie eine Erstattung der überzahlten Zuzahlungen bei Ihre Krankenkasse beantragen.

Wichtig ist, dass nur die gesetzlich vorgeschriebenen Zuzahlungen berücksichtigt werden. Mehrkosten, etwa, weil Sie ein bestimmtes Medikament wünschen oder einen besseren Rollator wollten, zählen nicht zu den erstattungsfähigen Zuzahlungen.
Auch die Zuzahlungen beim Zahnersatz und für individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) gehören nicht zu den erstattungsfähigen Zuzahlungen.

Die individuelle Belastungsgrenze wird anhand des Einkommens des Versicherten berechnet. Für Ehepaare gilt das gemeinsame Einkommen, unabhängig davon, ob eine Familienversicherung besteht oder jeder Ehepartner selbst versichert ist.
Wenn familienversicherte Kinder selbst Einkommen haben, zählen diese ebenfalls zum Gesamteinkommen. Die persönliche Belastungsgrenze muss jedes Jahr neu ermittelt werden, da sich das Einkommen, also Gehalt oder Rente im Laufe eines Jahres ändern kann.

Im Normalfall beträgt die individuelle Belastungsgrenze 2 % des jährlichen Bruttoeinkommens. Für chronisch Kranke beträgt sie nur 1 % der Bruttoeinnahmen.

Wann Sie als chronisch krank gelten

Chronisch krank sind Personen, die ein Jahr und länger mindestens einmal im Quartal ärztlich behandelt wurden, etwa bei einer Herzerkrankung, bei der mindestens einmal im Quartal ein EKG gemacht wird. Darüber hinaus müssen Sie eine der folgenden Voraussetzungen erfüllen:

  • Sie haben mindestens den Pflegegrad 3 oder höher, oder
  • wegen Ihrer Erkrankung liegt ein Grad der Behinderung von mindestens 60 GdB oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 60 % vor.
  • Oder bei Ihnen ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich, wie etwa eine Arzneimitteltherapie oder Versorgung mit Heil- und/oder Hilfsmitteln, und ohne diese Therapie würde sich Ihr Gesundheitszustand verschlimmern.

Um nachzuweisen, dass Sie eine der o. g. Voraussetzungen erfüllen, müssen Sie diese Ihrer Krankenkasse nachweisen.

Die Belastungsgrenze wird individuell ermittelt

Ihre Belastungsgrenze wird für Sie und Ihren Ehepartner und Ihre Kinder bis zum 18. Lebensjahr, die mit Ihnen im gemeinsamen Haushalt leben, zusammen berechnet.
Dabei können Freibeträge geltend gemacht werden. Auch die Zuzahlungen werden von allen Familienmitgliedern berücksichtigt.

Um die Belastungsrenze zu ermitteln, müssen Sie der Krankenkasse Einkommensnachweise, z. B. Rentenbescheide oder Gehaltsabrechnungen in Kopie einreichen. Auch die geleisteten Zuzahlungen im abgelaufenen Jahr müssen sie nachweisen. Hierzu sollten Sie alle Quittungen von Zuzahlungen zu Medikamenten, therapeutischen Maßnahmen wie Physiotherapie oder zu Verordnungen oder Hilfsmitteln aufbewahren und mit Ihrem Antrag bei der Kasse einreichen.
Die Kasse berechnet dann Ihre Belastungsrenze und erstattet den überzahlten Betrag.

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Anspruch auf Einsichtnahme in Pflegedokumentation – BGH, Urteil vom 26.02.2013 – VI ZR 359/11

a) Der Anspruch des Pflegeheimbewohners auf Einsicht in die Pflegeunterlagen geht gema?ß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB auf den – aufgrund des Schadensereignisses zu kongruenten Sozialleistungen verpflichteten – Sozialversicherungstra?ger u?ber, wenn und soweit mit seiner Hilfe das Bestehen von Schadensersatzanspru?chen gekla?rt werden soll und die den Altenpflegern obliegende Pflicht zur Verschwiegenheit einem Gla?ubigerwechsel nicht entgegensteht.

b) Die Pflicht zur Verschwiegenheit steht einem Gla?ubigerwechsel in der Regel nicht entgegen, wenn eine Einwilligung des Heimbewohners in die Einsichtnahme der u?ber ihn gefu?hrten Pflegedokumentation durch den Sozialversicherungstra?ger vorliegt oder zumindest sein vermutetes Einversta?ndnis anzunehmen ist, soweit einer ausdru?cklichen Befreiung von der Schweigepflicht Hindernisse entgegenstehen.

c) Es wird regelma?ßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Pflegedokumentation gegenu?ber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Heimbewohners entspricht, wenn die Entbindung von der Schweigepflicht dem Tra?ger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzanspru?chen wegen der Verletzung von Betreuungspflichten des Altenpflegepersonals ermo?glichen soll.

Tenor

Die Revision gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. November 2011 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Die Klägerin, eine Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung, nimmt den beklagten Heimträger aus übergegangenem Recht einer bei ihr versicherten Heimbewohnerin auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation in Anspruch.

Die Versicherte zog sich bei einem Sturz in dem von der Beklagten betriebenen Pflegeheim am 13. April 2009 erhebliche Verletzungen zu. Wegen dieser Verletzungen wurde sie stationär in einem Krankenhaus aufgenommen und ärztlich behandelt. Sie verstarb am 4. Mai 2009. Die für ihre Behandlung und für die Krankenhauspflege entstandenen Kosten in Höhe von 3.182,03 € wurden von der Klägerin getragen. Um die Berechtigung eventueller auf sie 1 gemäß § 116 SGB X übergegangener Schadensersatzansprüche prüfen zu können, forderte die Klägerin die Beklagte auf, ihr Kopien der über die Versicherte geführten Pflegedokumentation zu überlassen. Die Beklagte lehnte dies ab.

Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin Kopien der vollständigen Pflegedokumentation über den Aufenthalt der Versicherten für die Zeit vom 1. Juli 2008 bis 13. April 2009 Zug um Zug gegen Erstattung angemessener Kopierkosten herauszugeben, und festgestellt, dass sich die Beklagte insoweit in Annahmeverzug befindet. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Gründe

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Anspruch der am 4. Mai 2009 verstorbenen Versicherten auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation gemäß § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB auf die Klägerin übergegangen. Zwar habe die Versicherte die Beklagte nicht von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbunden. Da sich die Versicherte aufgrund ihres Ablebens mit der Einsichtnahme in die Pflegedokumentation durch die Klägerin nicht mehr einverstanden erklären könne, genüge aber ihre mutmaßliche Einwilligung. Von einer solchen sei vorliegend auszugehen. Zwar komme der Wahrung des Berufsgeheimnisses der Vorrang zu, soweit von der Schweigepflicht her ernstliche Bedenken gegen eine Einsichtnahme in die Dokumentation bestünden. Aus diesem Grund habe der Heimbetreiber gewissen-3 haft zu prüfen, ob Anhaltspunkte dafür gegeben seien, dass die Verstorbene die Offenlegung der Pflegedokumentation gegenüber ihrer Krankenkasse mutmaßlich gebilligt haben würde. Hierbei sei allerdings zu berücksichtigen, dass das Interesse des Verstorbenen an der Geheimhaltung mit seinem Tode erloschen sein könne und sachfremde, weil nicht von der erkennbar gewordenen oder zu vermutenden Willensrichtung des Verstorbenen gedeckte Gründe eine Verweigerung der Einsicht nicht rechtfertigen könnten. Dazu gehöre in der Regel auch die Befürchtung, dass durch die Einsichtnahme eigenes oder zurechenbares fremdes Verschulden aufgedeckt werden könne. In Fällen wie dem vorliegenden könne nur ausnahmsweise von einem Geheimhaltungswunsch des Heimbewohners ausgegangen werden. Der Heimbetreiber müsse deshalb darlegen, dass und unter welchen allgemeinen Gesichtspunkten er sich durch die Schweigepflicht an der Offenbarung der Unterlagen gehindert sehe. Diesen Anforderungen genüge der Beklagtenvortrag nicht. Die Beklagte habe lediglich eine Vielzahl grundsätzlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher Bedenken erhoben. Sie habe hingegen nicht dargelegt, dass sich ihre Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange der Verstorbenen stütze. Die Klägerin habe ihr Einsichtsbegehren auch auf einen angemessenen Zeitraum vor dem Ableben begrenzt.

II.

Diese Erwägungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Klägerin gegen die Beklagte aus übergegangenem Recht ihrer Versicherten ein Anspruch auf Herausgabe von Kopien der diese betreffenden Pflegedokumentation für den geltend gemachten Zeitraum zusteht. 5 1. Die Revision wendet sich nicht gegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Versicherte zu Lebzeiten einen Anspruch gegen die Beklagte auf Einsicht in die über sie geführte Pflegedokumentation hatte. Diese Beurteilung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats steht dem Heimbewohner grundsätzlich ein Einsichtsrecht in die ihn betreffende Pflegedokumentation als Nebenanspruch aus dem Heimvertrag zu (Senatsurteile vom 23. März 2010 – VI ZR 249/08, BGHZ 185, 74 Rn. 12; vom 23. März 2010 – VI ZR 327/08, VersR 2010, 971 Rn. 11; vgl. auch Harsdorf-Gebhardt, PflR 1999, 252 ff.; Jaeger, MedR 2010, 856; Lauterbach, NJ 2010, 347; Roßbruch, PflR 2010, 257, 262; Schultze-Zeu, VersR 2011, 194 ff.; Schumann, WzS 2010, 261 ff.). Dieser zusätzliche Vertragsanspruch beruht auf der Ausstrahlungswirkung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG auf die vertragliche Beziehung zwischen Heimbewohner und Heimträger (vgl. BVerfG, MedR 1993, 232; GRUR-RR 2011, 217, 218; ZUM 2011, 313 Rn. 19, jeweils mwN). Das Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde des Heimbewohners gebieten es, ihm grundsätzlich einen Anspruch einzuräumen, sich über den Inhalt der ihn betreffenden Pflegedokumentation zu informieren. Denn die Pflegeunterlagen mit ihren Angaben über die Pflegeanamnese, Pflegeplanung, Pflegeverlauf und ärztliche Verordnungen betreffen den Pflegebedürftigen unmittelbar in seiner Privatsphäre (vgl. Senatsurteile vom 23. März 2010 – VI ZR 249/08, BGHZ 185, 74 Rn. 12; vom 23. März 2010 – VI ZR 327/08, VersR 2010, 971 Rn. 11; zur Einsichtnahme in Krankenunterlagen: BVerfG, MedR 1999, 180; MedR 2006, 419). Deshalb hat dieser generell ein geschütztes Interesse daran, zu erfahren, wie mit ihm umgegangen wurde und welche Daten sich dabei ergeben haben. Zur Einsicht in die Pflegedokumentation muss er insbesondere kein besonderes Interesse darlegen; dieses ergibt sich vielmehr – wie beim Recht des Patienten auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen (vgl. Senatsurteile vom 2. Oktober 1984 – VI ZR 311/82, VersR 1984, 1171 f.; 6 vom 6. Dezember 1988 – VI ZR 76/88, BGHZ 106, 146, 148; BVerfG, MedR 2006, 419) – unmittelbar aus seinem Selbstbestimmungsrecht (vgl. Kasseler Kommentar/Kater, Sozialversicherungsrecht, § 116 SGB X Rn. 161a, (Stand: Juni 2012); Roßbruch, PflR 2010, 257, 262; Schultze-Zeu, VersR 2011, 194, 195; a.A. Harsdorf-Gebhardt, aaO, S. 253, 256).

2. Das Berufungsgericht hat auch zutreffend angenommen, dass der Einsichtsanspruch der Versicherten kraft Gesetzes auf die Klägerin übergegangen ist.

a) Der erkennende Senat hat mit Urteilen vom 23. März 2010 entschieden, dass der Anspruch des Pflegeheimbewohners auf Einsicht in die Pflegeunterlagen gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB auf den – aufgrund des Schadensereignisses zu kongruenten Sozialleistungen verpflichteten – Sozialversicherungsträger übergeht, wenn und soweit mit seiner Hilfe das Bestehen von Schadensersatzansprüchen geklärt werden soll und die Altenpflegern obliegende Pflicht zur Verschwiegenheit einem Gläubigerwechsel nicht entgegensteht. Hiervon ist in der Regel auszugehen, wenn eine Einwilligung des Heimbewohners in die Einsichtnahme der über ihn geführten Pflegedokumentation durch den Sozialversicherungsträger vorliegt oder zumindest sein vermutetes Einverständnis anzunehmen ist, soweit einer ausdrücklichen Befreiung von der Schweigepflicht Hindernisse entgegenstehen (vgl. Senatsurteile vom 23. März 2010 – VI ZR 249/08, BGHZ 185, 74 Rn. 14 ff., und – VI ZR 327/08, VersR 2010, 971 Rn. 13 ff.). Diese Entscheidungen haben in der Literatur weitgehend Zustimmung erfahren (vgl. Peters-Lange in jurisPK-SGB X, 2013, § 116 SGB X, Rn. 86; Kasseler Kommentar/Kater, aaO; Didong in jurisPK-SGB V, 2. Aufl., § 294a SGB V Rn. 7; Palandt/Grüneberg, BGB, 72. Aufl., § 401 Rn. 4; Lauterbach, NJ 2010, 347; Roßbruch, PflR 2010, 257 ff.; Schultze-Zeu, VersR 2011, 194 ff.; Alberts/Human in Berg-7 mann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 2012, § 810 BGB Rn. 13; a.A. Pregartbauer/Pregartbauer, VersR 2010, 973 ff.). Sie werden auch von der Revision nicht in Frage gestellt.

b) Die Versicherte konnte aufgrund ihres Ablebens die Beklagte bzw. die sie betreuenden Altenpfleger nicht mehr von der – sowohl aus dem Heimvertrag als auch aus § 203 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB (vgl. §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AltenpflegeG; OLG Hamm, NJW 2007, 849 Rn. 42 f.; Lenckner/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 203 Rn. 35 mwN) abzuleitenden – Pflicht zur Verschwiegenheit befreien.

c) Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Versicherte wäre mit einer Einsichtnahme der Klägerin in die über sie geführte Pflegedokumentation mutmaßlich einverstanden gewesen.

aa) Wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, reicht die Pflicht zur Verschwiegenheit grundsätzlich über den Tod des Betroffenen hinaus (vgl. § 203 Abs. 4 StGB); sie gewährleistet damit, dass geheimhaltungsbedürftige Tatsachen aus seinem Lebensbereich auch nach seinem Ableben nicht oder jedenfalls nicht weiter als nötig aufgedeckt werden (Senatsurteil vom 31. Mai 1983 – VI ZR 259/81, VersR 1983, 834, 836; BGH, Beschluss vom 4. Juli 1984 – IVa ZB 18/83, BGHZ 91, 392, 398). Auch nach dem Tode hängt es in erster Linie vom Willen des Verstorbenen ab, ob und in welchem Umfang der Geheimnisträger zum Schweigen verpflichtet ist. Hat der Verstorbene sich hierüber zu Lebzeiten geäußert, dann ist grundsätzlich dieser Wille maßgebend. Lässt sich dagegen eine Willensäußerung des Verstorbenen nicht feststellen, muss sein mutmaßlicher Wille erforscht, also geprüft werden, ob er die Offenlegung durch den Geheimnisträger mutmaßlich gebilligt oder missbilligt haben würde. Dabei sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichti-9 gen, insbesondere das Anliegen der Einsicht begehrenden Person sowie der Umstand, dass frühere Geheimhaltungswünsche des Betroffenen infolge der durch sein Ableben veränderten Sachlage inzwischen überholt sein können. Von der erkennbar gewordenen oder zu vermutenden Willensrichtung des Heimbewohners nicht gedeckte Verweigerungsgründe sind sachfremd und daher unbeachtlich (vgl. zum Ganzen: Senatsurteil vom 31. Mai 1983 – VI ZR 259/81, VersR 1983, 834, 836; BGH, Beschluss vom 4. Juli 1984 – IVa ZB 18/83, BGHZ 91, 392, 399; BayObLG, NJW 1987, 1492; VerfGH Bayern, MedR 2012, 51, 52; BAG, NJW 2010, 1222 Rn. 13; OLG München, MDR 2011, 1496; VersR 2009, 982, 983; Fellner, MDR 2011, 1452; vgl. auch § 630g Abs. 3 Satz 3 BGB in der Fassung von Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patienten und Patientinnen vom 20. Februar 2013, BGBl. I S. 277).

bb) Die Entscheidung, ob der Verstorbene den Heimträger bzw. die ihn betreuenden Altenpfleger mutmaßlich von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbunden hätte, obliegt dem (jeweiligen) Geheimnisträger. Ihm kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der durch die Gerichte nur eingeschränkt nachprüfbar ist. Denn andernfalls wäre er gezwungen, das möglicherweise schutzbedürftige Geheimnis preiszugeben. Der Geheimnisträger ist deshalb zu einer gewissenhaften Überprüfung verpflichtet, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verstorbene die ganze oder teilweise Offenlegung der Pflegeunterlagen gegenüber seinen Rechtsnachfolgern mutmaßlich missbilligt haben würde. Um dem Gericht eine Überprüfung zu ermöglichen, ob der Geheimnisträger den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum eingehalten hat, hat der Geheimnisträger allerdings darzulegen, unter welchen allgemeinen Gesichtspunkten er sich durch die Schweigepflicht an der Offenlegung der Unterlagen gehindert sieht. Dabei genügt es nicht, wenn er sich nur auf grundsätzliche Erwägungen oder die besondere Bedeutung der Pflicht zur Verschwiegenheit beruft. Vielmehr muss er nachvollziehbar vortragen, dass sich seine Weigerung auf kon-12 krete oder mutmaßliche Belange des Verstorbenen und nicht auf sachfremde Gesichtspunkte stützt. Die Substantiierung ist allerdings nicht in einem Umfang geschuldet, dass die damit zu rechtfertigende Geheimhaltung im Ergebnis unterlaufen würde (vgl. Senatsurteil vom 31. Mai 1983 – VI ZR 259/81, VersR 1983, 834, 836; BGH, Beschluss vom 4. Juli 1984 – IVa ZB 18/83, BGHZ 91, 392, 399 f.; BayObLG, NJW 1987, 1492, 1493; VerfGH Bayern, MedR 2012, 51, 52; OLG München, MDR 2011, 1496; VersR 2009, 982, 983; Wenzel/Müller, Der Arzthaftungsprozess, Rn. 1637; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl. Rn. 563; Schultze-Zeu, VersR 2009, 1050, 1052; Lauterbach, NJ 2010, 347; Fellner, MDR 2011, 1452; Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Aufl., Kap. IX Rn. 19 Fn. 29, Rn. 63 ff.). Sofern die von dem Geheimnisträger in diesem Rahmen angeführten Gründe nicht nachvollzogen werden und eine Weigerung nicht rechtfertigen können, ist von einer mutmaßlichen Einwilligung in die Offenlegung der Unterlagen auszugehen (vgl. BayObLG, NJW 1987, 1492, 1493; OLG München, MDR 2011, 1496; VersR 2009, 982, 983).

cc) In Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Betreuungspflichten des Altenpflegepersonals ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Heimbewohners entspricht (so auch OLG München, MDR 2011, 1496; Fellner, MDR 2011, 1452, 1453; Lauterbach, NJ 2010, 347; Schultze-Zeu, VersR 2009, 1050, 1052; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 563; Alberts/Human in Bergmann/Pauge/Steinmeyer, aaO). Es ist davon auszugehen, dass der Bewohner eines Altenpflegeheims, der im Heim zu Schaden gekommen ist, sowohl an der Aufdeckung von Pflegefehlern als auch daran interessiert ist, dass etwaige gegen den Heimträger bestehende Schadensersatzansprüche von diesem ausge-13 glichen werden und nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten gehen (vgl. OLG München, MDR 2011, 1496; Fellner, MDR 2011, 1452, 1453; Lauterbach, NJ 2010, 347). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ein nicht unerheblicher Teil der in der Pflegedokumentation enthaltenen sensiblen Gesundheitsdaten seines Versicherten (ärztliche Diagnose, Behandlungsweise, Verordnungen) aufgrund der Erbringung von Leistungen bereits bekannt ist, so dass dessen Geheimhaltungsinteresse entsprechend reduziert ist (vgl. zur Datenübermittlung von den Leistungserbringern an die Krankenkassen: §§ 106, 106a Abs. 1, 3, §§ 275, 277, 284, 294 ff., 301 SGB V sowie BSGE 90, 1; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr. 16, Rn. 18 ff.; Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, aaO, Rn. 21).

dd) Nach diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht zu Recht von einer mutmaßlichen Einwilligung der Versicherten in die Überlassung von Kopien ihrer Pflegeunterlagen an die Klägerin ausgegangen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen hat die Beklagte keine Tatsachen vorgetragen, die ihre ablehnende Entscheidung nachvollziehbar erscheinen lassen, sondern ihre Weigerung lediglich auf nicht ausreichende grundsätzliche Bedenken gestützt.

Galke Wellner Pauge Stöhr von Pentz Vorinstanzen:

AG Böblingen, Entscheidung vom 22.11.2010 – 19 C 2234/10

LG Stuttgart, Entscheidung vom 23.11.2011 – 5 S 308/10

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Unterhaltspflicht bei Grundsicherung im Alter – BGH, Urteil vom 08.07.2015 – XII ZB 56/14

a) Für den Unterhaltsberechtigten besteht grundsätzlich die Obliegenheit zur Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII); eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Leistungen führen.

b) Die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist gemäß § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII schon dann insgesamt ausgeschlossen, wenn bei einer Mehrzahl von unterhaltspflichtigen Kindern des Leistungsberechtigten nur eines der Kinder über steuerliche Gesamteinkünfte in Höhe von 100.000 € oder mehr verfügt (im Anschluss an BSG FamRZ 2014, 385).

c) Erhält der Unterhaltsberechtigte aus diesem Grund nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 19 Abs. 2 Satz 2, 27 ff. SGB XII) und haften mehrere unterhaltspflichtige Kinder gemäß § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB anteilig für den Elternunterhalt, stellt der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger für ein privilegiertes Kind mit einem unter 100.000 € liegenden steuerlichen Gesamteinkommen eine unbillige Härte im Sinne von § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII dar, wenn und soweit dieses Kind den unterhaltsberechtigten Elternteil nur wegen des Vorhandenseins nicht privilegierter Geschwister nicht auf die bedarfsdeckende Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen verweisen kann.

d) In diesem Fall kann das privilegierte Kind der Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs durch den unterhaltsberechtigten Elternteil den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegenhalten, und zwar sowohl wegen vergangener als auch wegen zukünftiger Unterhaltszeiträume.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 7. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm vom 17. Dezember 2013 wird auf Kosten der Antragstellerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

Gründe

A.

Die Beteiligten streiten um Elternunterhalt für die Zeit seit August 2011.

Die 1934 geborene Antragstellerin ist verwitwet und lebt im eigenen Haushalt. Sie hat in den hier streitigen Unterhaltszeiträumen einen durch Renteneinkünfte und Eigenverdienst nicht gedeckten Unterhaltsbedarf in wechselnder Höhe zwischen 647 € und 756 €. Der Antragsgegner ist der Sohn der Antragstellerin. Er bezieht ein jährliches Bruttoeinkommen in Höhe von rund 76.500 €. Die Antragstellerin hat einen weiteren Sohn und eine Tochter. Der Bruder des Antragsgegners erzielt jährliche Bruttoeinkünfte in Höhe von mehr als 150.000 €. Seine Schwester ist bei einem Bruttojahreseinkommen in Höhe von rund 21.000 € unstreitig für die Zahlung von Elternunterhalt an die Antragstellerin nicht leistungsfähig.

Wegen ihres ungedeckten Unterhaltsbedarfs hatte die Antragstellerin die Bewilligung von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (im Folgenden: Grundsicherungsleistungen) beantragt. Die Stadt I. lehnte diesen Antrag wegen der über der Einkommensgrenze des § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII liegenden Einkünfte des Bruders des Antragsgegners ab und gewährte der Antragstellerin statt dessen Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Hilfe zum Lebensunterhalt) unter Rückübertragung der auf sie übergegangenen Unterhaltsansprüche zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung gegen den Antragsgegner und seinen Bruder.

Im vorliegenden Verfahren hat die Antragstellerin zunächst darauf angetragen, den Antragsgegner zur Zahlung eines Unterhaltsrückstands in Höhe von 3.117,75 € für den Zeitraum von August 2011 bis Oktober 2012 und eines laufenden Unterhalts in Höhe von monatlich 207,85 € ab November 2012 zu verpflichten. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt. Sie hat ihren Antrag im Beschwerdeverfahren teilweise erweitert und zuletzt von dem Antragsgegner die Zahlung eines Unterhaltsrückstands für den Zeitraum von August 2011 bis August 2013 in Höhe von 7.779,50 € nebst Zinsen und einen laufenden Unterhalt in Höhe von monatlich 346,71 € ab September 2013 verlangt. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragstellerin, mit der sie ihre Anträge noch wegen eines Unterhaltsrückstands in Höhe von 3.725 € für den Zeitraum von August 2011 bis August 2013 sowie wegen eines laufenden Unterhalts in Höhe von 180 € ab September 2013 bzw. in Höhe von 182 € ab Januar 2014 weiterverfolgt.

B.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

I.

Das Beschwerdegericht, dessen Entscheidung in FamRZ 2014, 1710 veröffentlicht ist, hat die für den Elternunterhalt relevanten Einkünfte und Verbindlichkeiten des Antragsgegners ermittelt und nach einer, die unterhaltsrelevanten Einkünfte des Bruders einbeziehenden Haftungsanteilsberechnung festgestellt, dass der Antragsgegner aufgrund seiner Leistungsfähigkeit im verfahrensgegenständlichen Unterhaltszeitraum rechnerisch monatliche Beträge in wechselnder Höhe zwischen 109 € und 182 € für den Elternunterhalt schulden würde. Insoweit nimmt die Rechtsbeschwerde die Ausführungen des Beschwerdegerichts hin.

Indessen geht das Beschwerdegericht mit folgender Begründung davon aus, dass die Antragstellerin in Höhe des rechnerisch auf den Antragsgegner entfallenden Haftungsanteils nicht unterhaltsbedürftig sei und insoweit auf vorrangige Grundsicherungsleistungen verwiesen werden könne: Der Anspruch der Antragstellerin auf Grundsicherungsleistungen sei nur in Höhe des Haftungsanteils des Bruders des Antragsgegners ausgeschlossen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 43 Abs. 3 Satz 1 und 6 SGB XII. § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII könne trotz seines vermeintlich eindeutigen Wortlauts auch dahin ausgelegt werden, dass der Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nur so weit ausgeschlossen sei, als die auf den einzelnen Unterhaltsschuldner bezogene Einkommensvermutung widerlegt sei. Dieses Ergebnis werde durch die rechtssystematische Auslegung des § 43 Abs. 3 SGB XII im Zusammenhang mit dem Unterhaltsrecht und dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt. Unterhaltsforderungen gegen zwei Schuldner seien stets unterschiedliche Ansprüche. Eine gemeinschaftliche Haftung auf Unterhalt, die unabhängig von der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen durch jeden einzelnen Schuldner eintrete, sei dem Unterhaltsrecht fremd. Diesem Prinzip liefe die unter Verweis auf § 43 Abs. 3 SGB XII begründete Inanspruchnahme des Antragsgegners zuwider. Er würde nur deshalb unterhaltspflichtig, weil er einen Bruder habe, dessen Einkünfte oberhalb der Einkommensgrenze liegen. Geriete der Bruder in Vermögensverfall, bestünde ein Anspruch der Antragstellerin auf Grundsicherung und der Antragsgegner wäre nach § 43 Abs. 3 SGB XII privilegiert. Ein abweichendes Verständnis der Norm führe zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung des Antragsgegners mit einem Einzelkind. Zudem solle durch die Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB XII die Furcht des Bedürftigen vor dem Unterhaltsrückgriff auf seine Kinder und damit einer der Hauptgründe für die verschämte Altersarmut beseitigt werden. Die Einkommensgrenze von 100.000 € sei nur deswegen eingeführt worden, weil es eine Privilegierung gut verdienender Unterhaltsschuldner zu Lasten der Allgemeinheit nicht geben solle. Der angestrebte Zweck des Gesetzes würde aber nicht erreicht, wenn der Berechtigte gezwungen wäre, neben dem wohlhabenden Kind seine deutlich geringer verdienenden Kinder auf Unterhalt in Anspruch zu nehmen.

Dies hält rechtlicher Überprüfung zwar im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung stand.

II.

Nicht gefolgt werden kann der Auffassung des Beschwerdegerichts, dass der Antragstellerin fiktive Grundsicherungsleistungen bedarfsdeckend zugerechnet werden könnten und ihre Unterhaltsbedürftigkeit aus diesem Grunde entfällt.

1. Richtig ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII vor, werden diese unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen gegen Eltern und Kinder gewährt (vgl. BSG FamRZ 2009, 44 Rn. 16). Sie sind daher dem Unterhaltsanspruch gegenüber nicht nachrangig, sondern gelten als Einkommen und reduzieren dadurch den unterhaltsrechtlichen Bedarf des Leistungsempfängers, ohne dass es darauf ankommt, ob sie zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden sind (Senatsurteil vom 20. Dezember 2006 – XII ZR 84/04FamRZ 2007, 1158 Rn. 14). Nach allgemeiner Ansicht besteht daher für den Unterhaltsberechtigten grundsätzlich die Obliegenheit zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen; eine Verletzung dieser Obliegenheit kann zur Anrechnung fiktiver Einkünfte in der Höhe der entgangenen Grundsicherung führen (OLG Frankfurt Urteil vom 23. Januar 2008 – 5 UF 146/07 – juris Rn. 19; OLG Nürnberg FamRZ 2004, 1988; OLG Saarbrücken MittBayNot 2005, 436, 437; Wendl/Dose Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 1 Rn. 706; Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 161; Erman/Hammermann BGB 14. Aufl. § 1602 Rn. 49; Soergel/Lettmaier BGB 13. Aufl. § 1602 Rn. 27; Koch/Margraf Handbuch des Unterhaltsrechts 12. Aufl. Rn. 6048 a; Botur in Büte/Poppen/Menne Unterhaltsrecht 3. Aufl. § 1602 BGB Rn. 30; NK-BGB/Saathoff 3. Aufl. § 1602 Rn. 21; Günther FPR 2005, 461, 464; Scholz FamRZ 2007, 1160, 1161; vgl. auch Senatsbeschluss vom 17. Juni 2015 – XII ZB 458/14 – zur Veröffentlichung bestimmt, dort zur Obliegenheit zum Abschluss einer Pflegeversicherung).

2. Nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen hatte die Antragstellerin rechtzeitig Grundsicherungsleistungen beantragt und den Antragsgegner erst nach Ablehnung dieses Antrages durch die Stadt I. auf Zahlung von Elternunterhalt in Anspruch genommen. Eine unterhaltsrechtliche Verpflichtung, von sich aus mit Rechtsbehelfen gegen die Versagung von bedarfsdeckenden Grundsicherungsleistungen vorzugehen, kann den Unterhaltsberechtigten von vornherein nur beim Vorliegen hinreichender Erfolgsaussichten treffen (Scholz FamRZ 2007, 1160, 1161). Solche bestanden unter den hier obwaltenden Umständen nicht.

Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts hat die Antragstellerin wegen § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter, weil eines ihrer unterhaltspflichtigen Kinder (der Bruder des Antragsgegners) unstreitig über steuerrechtliche Bruttoeinkünfte in Höhe von mehr als 150.000 € verfügt.

a) Gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne von § 16 SGB IV unter einem Betrag von 100.000 € liegt. Es wird nach § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB XII vermutet, dass das Einkommen der Unterhaltspflichtigen diese Grenze nicht überschreitet. Zur Widerlegung dieser Vermutung kann der Träger der Grundsicherung von den Leistungsberechtigten Angaben verlangen, die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse der Unterhaltspflichtigen zulassen, § 43 Abs. 3 Satz 3 SGB XII. Liegen im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte für ein Erreichen der Einkommensgrenze von 100.000 € vor, sind die Unterhaltspflichtigen gegen-

über dem Träger der Grundsicherung verpflichtet, in einem für die Durchführung der Vorschriften über die Grundsicherung erforderlichen Umfang über ihre Einkommensverhältnisse Auskunft zu geben, was auch die Verpflichtung umschließt, Beweisurkunden vorzulegen oder deren Vorlage zuzustimmen (§ 43 Abs. 3 Satz 4 und 5 SGB XII). Gemäß § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII haben Leistungsberechtigte keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, wenn die nach § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB XII geltende Vermutung durch den Träger der Grundsicherung nach § 43 Abs. 3 Satz 4 und 5 SGB XII widerlegt ist.

b) Unterschiedliche Auffassungen werden zu der Frage vertreten, ob Grundsicherungsleistungen gemäß § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII auch dann insgesamt ausgeschlossen sind, wenn der Träger der Grundsicherung bei einer Mehrzahl von Kindern des Leistungsberechtigten nicht für alle Kinder den Nachweis eines steuerrechtlichen Bruttoeinkommens in Höhe von 100.000 € oder mehr führen kann.

Die Ansicht des Beschwerdegerichts, dass in solchen Fällen des Zusammentreffens von privilegierten und nicht privilegierten Kindern die Vorschrift des § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht als vollständiger Ausschluss der Grundsicherung verstanden werden könne, wird in Teilen des unterhaltsrechtlichen Schrifttums geteilt. Weil im Unterhaltsrecht keine gesamtschuldnerische Haftung bestehe, sondern jedes Kind nur mit einem individuell nach § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB bemessenen Haftungsanteil für den Unterhalt des Leistungsberechtigten einzustehen habe, greife die Grundsicherung in reduzierter Höhe weiter ein, soweit der Leistungsberechtigte seinen Bedarf nicht durch die haftungsanteiligen Unterhaltszahlungen seiner nicht privilegierten Kinder decken könne (vgl. Wendl/Dose Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis 9. Aufl. § 1 Rn. 707; BeckOGK/Selg BGB [Stand: Oktober 2014] § 1602 Rn. 64; Wefers FamRB 2014, 222, 224 f.).

Demgegenüber geht die wohl überwiegende Ansicht davon aus, dass nach § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen schon dann insgesamt ausgeschlossen ist, wenn nur eines der Kinder des Leistungsberechtigten ein Einkommen erzielt, welches die Einkommensgrenze von 100.000 € erreicht (vgl. Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 160; Koch/Margraf Handbuch des Unterhaltsrechts 12. Aufl. Rn. 6049; Hilbig-Lugani in Eschenbruch/Schürmann/Menne Der Unterhaltsprozess 6. Aufl. Kap. 2 Rn. 1266; Günther FPR 2005, 461, 463; Jeschke FamRZ 2015, 330; Schürmann juris-PR/FamR 17/2014 Anm. 1; H. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm SGB XII 18. Aufl. § 43 Rn. 15; Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2013] § 43 Rn. 57).

Die letztgenannte Auffassung ist – was auch die Rechtsbeschwerdeerwiderung nicht anders sieht – zutreffend.

aa) Bereits die grammatikalische Auslegung steht einem anderen Auslegungsergebnis entgegen. Nach § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bleiben Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Eltern und Kindern unberücksichtigt, sofern (und nicht „soweit“) deren jährliches Gesamteinkommen unter einem Betrag von 100.000 € liegt. Im Hinblick auf die Verwendung des Plurals (Kinder und Eltern) ist die Vorschrift jedenfalls insoweit eindeutig, als die von ihr angeordnete Rechtsfolge (Nichtberücksichtigung von Unterhaltsansprüchen des Leistungsberechtigten) bei einer Mehrzahl von unterhaltspflichtigen Kindern oder Elternteilen nur dann eintritt, wenn keines der Kinder oder Elternteile des Leistungsberechtigten ein jährliches Gesamteinkommen von 100.000 € oder mehr erzielt. Die darauf bezogene Vermutung des § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB XII, wonach das Einkommen „der Unterhaltspflichtigen“ die Einkommensgrenze von 100.000 € nicht übersteige, ist begrifflich schon dann widerlegt, wenn der Träger der Grundsicherung nachweisen kann, dass zumindest eines von mehreren unterhaltspflichtigen Kindern oder Elternteilen über ein jährliches Gesamteinkommen in Höhe von mindestens 100.000 € verfügt. Nach § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII ist der Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn (und nicht „soweit“) dem Träger der Grundsicherung dieser Nachweis gelingt.

bb) Der Senat vermag die vom Beschwerdegericht gegen dieses Auslegungsergebnis geltend gemachten systematischen und teleologischen Bedenken nicht zu teilen.

(1) § 43 Abs. 3 SGB XII kommt allein in dem auf die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen gerichteten Verwaltungsverfahren zur Anwendung. Systematisch regelt § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII somit auf der Ebene des sozialrechtlichen Leistungsrechts die Frage, ob der Leistungsberechtigte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder die ansonsten nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt nach dessen Dritten Kapitel erhalten kann. Das Gesetz schließt einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen aus und verweist den Anspruchsteller auf die Hilfe zum Lebensunterhalt, wenn er wenigstens ein unterhaltspflichtiges Kind oder einen unterhaltspflichtigen Elternteil mit einem Einkommen in Höhe von 100.000 € hat.

(2) Bei der Fassung des § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII hat sich der Gesetzgeber erkennbar von der Vorstellung leiten lassen, dass der Lebensunterhalt des Leistungsberechtigten in vollem Umfang vorrangig vor der Grundsicherung durch Verwandtenunterhalt sichergestellt werden kann, wenn (mindestens) ein Kind oder Elternteil vorhanden ist, das über ein besonders hohes Einkommen verfügt (vgl. Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2013] § 43 Rn. 55).

Richtig ist freilich, dass dies in mehrfacher Hinsicht im Widerspruch zu den Wertungen des materiellen Unterhaltsrechts steht (vgl. dazu eingehend Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 160). Die typisierende Annahme, dass der Bedarf des Leistungsberechtigten bei einem gewissen (steuerrechtlichen) Bruttoeinkommen eines unterhaltspflichtigen Kindes oder Elternteils in vollem Umfang durch dessen Unterhaltszahlungen gedeckt werden könne, kann sich bei unterhaltsrechtlicher Betrachtungsweise – insbesondere beim Bestehen hoher Verbindlichkeiten oder im Falle vorrangiger Unterhaltspflichten aufseiten des Unterhaltspflichtigen – im Einzelfall als nicht tragfähig erweisen. Zudem werden in vielen Fällen die nach § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII privilegierten Kinder oder Elternteile – wie im vorliegenden Fall der Antragsgegner – aus der Sicht des Unterhaltsrechts in der Lage sein, mit ihrem unterhalb des Grenzbetrages von 100.000 € liegenden Bruttoeinkommen zum Unterhalt des Leistungsberechtigten beizutragen, so dass sich die zivilrechtliche Unterhaltspflicht des nicht privilegierten Kindes oder Elternteils bei einer Mehrzahl von leistungsfähigen Unterhaltspflichtigen der Höhe nach von vornherein auf einen nach § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB bemessenen Haftungsanteil am gesamten Bedarf des Leistungsberechtigten beschränkt.

(3) Diese Widersprüche lassen sich allerdings aus der Binnenlogik der für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen maßgeblichen Verfahrensvorschriften heraus erklären. In diesem Verwaltungsverfahren soll bei der Prüfung der Bewilligungsvoraussetzungen nur sehr behutsam in die informationellen Selbstbestimmungsrechte des Leistungsberechtigten und seiner unterhaltspflichtigen Eltern und Kinder eingegriffen werden, damit der Leistungsberechtigte nicht aus Furcht vor umfassender behördlicher Ausforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner unterhaltspflichtigen Eltern und Kinder von der Beantragung der Grundsicherung Abstand nimmt (vgl. Schoch in LPK-SGB XII 9. Aufl. § 43 Rn. 10). Der Leistungsberechtigte ist deshalb – über allgemein gehaltene Angaben hinaus – nicht verpflichtet, dem Grundsicherungsträger umfassende Einzelheiten zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der unterhaltspflichtigen Eltern und Kinder zu offenbaren. Der in § 43 Abs. 3 Satz 4 SGB XII normierte Auskunftsanspruch des Grundsicherungsträgers gegen die unterhaltspflichtigen Kinder und Eltern richtet sich in persönlicher Hinsicht nur gegen diejenigen Unterhaltspflichtigen, für deren Person der Grundsicherungsträger bereits hinreichende Anhaltspunkte für ein den Grenzbetrag von 100.000 € erreichendes Einkommen darlegen kann (vgl. Buchner in Oestreicher SGB II/SGB XII [Stand: Oktober 2013] § 43 SGB XII Rn. 14). § 43 Abs. 3 Satz 4 SGB XII verdrängt in seinem Anwendungsbereich den allgemeinen sozialhilferechtlichen Auskunftsanspruch aus § 117 SGB XII (LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 29. Juli 2014 – L 8 SO 126/11 – juris Rn. 15; Günther FPR 2005, 461, 463; Hußmann FPR 2004, 534, 540). Gegenüber anderen Kindern und Elternteilen besteht daher sozialhilferechtlich kein Auskunftsanspruch, wenn es für diese Unterhaltspflichtigen keine Anhaltspunkte für ein Einkommen von 100.000 € oder mehr gibt. Inhaltlich ist der Auskunftsanspruch nach § 43 Abs. 3 Satz 4 SGB XII auf Angaben zum steuerlichen Bruttoeinkommen des Unterhaltspflichtigen beschränkt (Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2013] § 43 Rn. 52; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 169, 59 = FamRZ 2006, 1511, 1515). Demgegenüber kann (und soll) der Träger der Grundsicherung im Bewilligungsverfahren keine weitergehenden Informationen zu den sonstigen wirtschaftlichen Verhältnissen des Unterhaltspflichtigen erlangen, auch wenn diese – wie beispielsweise Angaben zu Wohnvorteilen oder zum Einkommen des Ehegatten des Unterhaltspflichtigen – für die Beurteilung seiner unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit unmittelbar von Bedeutung sind.

(4) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII (bis zum 31. Dezember 2012: § 43 Abs. 2 Satz 6 SGB XII) inhaltlich dem früheren § 2 Abs. 3 Satz 1 GSiG entspricht. Dessen Regelungsgehalt ist im Jahre 2005 nach der Eingliederung der sozialen Grundsicherung in das System der Sozialhilfe unverändert übernommen worden, was ebenfalls dafür spricht, dass der Gesetzgeber die bestehenden Wertungswidersprüche zum Unterhaltsrecht bewusst hingenommen hat.

cc) Bei der Beurteilung dieser Rechtsfrage sieht sich der Senat im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Dessen Entscheidung vom 25. April 2013 (BSG FamRZ 2014, 385) stützt die vom Beschwerdegericht vertretene Auslegung des § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht.

Das Bundessozialgericht hat im Rahmen der Auslegung von § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII aF (jetzt: § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) zwar die Individualität der Unterhaltsansprüche betont und darauf hingewiesen, dass sich der Unterhaltsanspruch des Leistungsberechtigten (im dortigen Streitfall ein volljähriges behindertes Kind) zivilrechtlich nicht gegen seine Eltern zusammen, sondern – abhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit – nur gegen den einzelnen Elternteil gesondert richten könne (vgl. BSG FamRZ 2014, 385 Rn. 22). Indessen stehen diese Äußerungen ausschließlich im Zusammenhang mit der Erörterung der in der sozialrechtlichen Literatur bis dahin streitig gewesenen Frage, ob die Einkünfte von Eltern – wegen der gemeinsamen steuerlichen Veranlagung – in Ansehung des Grenzbetrages von 100.000 € zusammenzurechnen sein könnten. Dies hat das Bundessozialgericht verneint, andererseits aber dem Wortlaut des § 43 Abs. 2 Satz 6 SGB XII aF (jetzt: § 43 Abs. 3 Satz 6 SGB XII) entsprechend darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen dann ausscheidet, wenn „mindestens einer der beiden Elternteile (allein) ein Gesamteinkommen von 100.000 Euro jährlich hat“ (BSG FamRZ 2014, 385 Rn. 19). Folgerichtig hat das Bundessozialgericht, das die vorinstanzliche Entscheidung im Streitfall aufgehoben hat, in seinen Hinweisen zum weiteren Verfahren ausdrücklich ausgeführt, dass dann, wenn „das Einkommen eines der Elternteile … über 100.000 Euro“ liegt, der Anspruch des Leistungsberechtigten auf Hilfe zum Lebensunterhalt zu prüfen sein wird (BSG FamRZ 2014, 385 Rn. 25).

III.

Die angefochtene Entscheidung erweist sich aber aus anderen Gründen als richtig (§ 74 Abs. 2 FamFG). Die Antragstellerin ist nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) an der Geltendmachung ihrer Unterhaltsansprüche gegen den Antragsgegner gehindert.

1. Die Antragstellerin ist bezüglich der verfahrensgegenständlichen Elternunterhaltsansprüche in materieller Hinsicht aktiv legitimiert.

Dies bedarf wegen des Unterhaltszeitraums seit Januar 2014, der nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Beschwerdegericht liegt, keiner näheren Erörterung. Aber auch in Ansehung der im Zeitraum von August 2011 bis Dezember 2013 durchgehend gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt ist die Antragstellerin Inhaberin des gegen den Antragsgegner gerichteten Anspruchs auf Elternunterhalt geblieben. Ihre Unterhaltsansprüche gegen den Antragsgegner sind nicht nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auf die Stadt I. übergegangen; die gleichwohl vorgenommene Rückabtretung geht ins Leere.

a) Der Ausschluss des Anspruchsübergangs ergibt sich allerdings nicht aus § 94 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 SGB XII. Nach dieser Vorschrift ist der Übergang bürgerlichrechtlicher Unterhaltsansprüche eines Leistungsberechtigten nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch gegen dessen Eltern und Kinder ausgeschlossen. Die Frage, ob „Leistungsberechtigter“ im Sinne des § 94 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 SGB XII nur derjenige ist, der tatsächlich Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel bezieht oder ob es im Falle des Bezuges anderer Sozialhilfeleistungen – insbesondere von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel – ausreicht, dass tatsächlich die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherung erfüllt gewesen wären (vgl. dazu LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 16. Mai 2013 – L 9 SO 212/12 – juris Rn. 50; Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2015] § 94 Rn. 146), braucht nicht erörtert zu werden, weil die Antragstellerin im Hinblick auf die Einkommensverhältnisse des Bruders des Antragsgegners keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel gehabt hätte.

b) Der Anspruchsübergang ist allerdings nach § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII wegen unbilliger Härte ausgeschlossen. Erhält der Unterhaltsberechtigte nachrangige Hilfe zum Lebensunterhalt, stellt der gesetzliche Anspruchsübergang für ein unterhaltspflichtiges Kind mit einem unter dem Grenzbetrag des § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII liegenden Gesamteinkommen eine unbillige Härte dar, wenn und soweit das Kind den unterhaltsberechtigten Elternteil nur wegen des Vorhandenseins einkommensstärkerer Geschwister nicht auf die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen verweisen kann (ebenso Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 160; Hilbig-Lugani in Eschenbruch/Schürmann/Menne Der Unterhaltsprozess 6. Aufl. Kap. 2 Rn. 1268; Schürmann juris-PR/FamR 17/2014 Anm. 1).

aa) Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII wegen unbilliger Härte ausgeschlossen ist, beurteilt sich grundsätzlich nach öffentlichrechtlichen Kriterien. Entscheidend ist daher, ob aus Sicht des Sozialhilferechts durch den Anspruchsübergang soziale Belange berührt werden, was notwendigerweise voraussetzt, dass der den Härtegrund rechtfertigende Lebenssachverhalt einen erkennbaren Bezug zum Sozialhilferecht oder zu einem sonstigen Handeln des Staates und seiner Organe aufweist (vgl. Senatsurteil vom 15. September 2010 – XII ZR 148/09FamRZ 2010, 1888 Rn. 45).

Die Härte kann in materieller oder immaterieller Hinsicht bestehen und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder in derjenigen des Hilfeempfängers vorliegen. Bei der Auslegung der Härteklausel ist in erster Linie die Zielsetzung der Hilfe zu berücksichtigen, daneben sind die allgemeinen Grundsätze der Sozialhilfe zu beachten. Eine unbillige Härte liegt danach insbesondere vor, wenn und soweit der öffentlichrechtliche Grundsatz der familiengerechten Hilfe, nach dem unter anderem auf die Belange und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen ist, einer Heranziehung entgegensteht (Senatsurteil vom 15. September 2010 – XII ZR 148/09FamRZ 2010, 1888 Rn. 46 und Senatsbeschluss vom 17. Juni 2015 – XII ZB 458/14 – zur Veröffentlichung bestimmt). Eine unbillige Härte kann ebenfalls darin bestehen, dass ein Sozialhilfeträger einen übergegangenen Unterhaltsanspruch auch insoweit geltend macht, als eine Sozialhilfebedürftigkeit hätte vermieden werden können und dies der Gesetzgebung oder einem sonstigen Handeln des Staates und seiner Organe zuzurechnen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Juni 2015 – XII ZB 458/14 – zur Veröffentlichung bestimmt). Im Gegensatz dazu genügt eine rein zivilrechtlich einzuordnende und keinen Bezug zum staatlichen Handeln aufweisende Störung familiärer Beziehungen grundsätzlich nicht, um eine unbillige Härte im Sinne des § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu begründen und damit einen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe auszuschließen (Senatsurteil vom 15. September 2010 – XII ZR 148/09FamRZ 2010, 1888 Rn. 44).

bb) Gemessen daran ist der Übergang der gegen den Antragsgegner gerichteten Unterhaltsansprüche der Antragstellerin auf den Träger der Sozialhilfe ausgeschlossen.

Als Einzelkind könnte der unter der Einkommensgrenze von 100.000 € liegende Antragsgegner vom Träger der Sozialhilfe nicht auf Unterhalt in Anspruch genommen werden, weil er die Antragstellerin auf bedarfsdeckende Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch verweisen und sich gegenüber dem Unterhaltsrückgriff des Sozialhilfeträgers auf das Privileg des § 94 Abs. 1 Satz 3, Halbs. 2 SGB XII berufen könnte. Mit den Regelungen, welche die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen von den Einkommensverhältnissen unterhaltspflichtiger Kinder und Eltern abhängig machen, wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass „hohe Einkommen nicht vom Unterhaltsrückgriff befreit werden“ (vgl. Plenarprotokoll 14/168 S. 16430). Hier würde der Antragsgegner einem Unterhaltsrückgriff aber nicht wegen der Höhe seines Einkommens, sondern allein deswegen ausgesetzt werden, weil er einen einkommensstärkeren Bruder hat. Dafür ist eine sachliche Rechtfertigung nicht ersichtlich (vgl. Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2013] § 43 Rn. 57).

Zudem wird das Phänomen der verschämten Altersarmut, dem durch die Einführung der Grundsicherung im Alter begegnet werden sollte, nach der Vorstellung des Gesetzgebers maßgeblich dadurch verursacht, dass ältere Menschen aus Furcht vor einem Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder keine Sozialhilfe beantragen (vgl. BT-Drucks. 14/4595 S. 43). Gerade aus Sicht des Sozialhilferechts wäre es deshalb verfehlt, wenn die Antragstellerin befürchten müsste, dass selbst ihre einkommensschwächeren Kinder bei einer Inanspruchnahme öffentlicher Hilfe mit einem Unterhaltsrückgriff durch den Hilfeträger zu rechnen hätten.

cc) Freilich darf die Anwendung der Härteklausel des § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII bei vergleichbaren Sachverhaltskonstellationen nicht dazu führen, dass der Unterhaltspflichtige dadurch besser steht, als wenn der Unterhaltsberechtigte tatsächlich bedarfsdeckende Grundsicherungsleistungen beziehen würde.

Die dem Unterhaltspflichtigen nach § 94 Abs. 1 Satz 3, Halbs. 2 SGB XII zugutekommende Haftungsprivilegierung gilt nur für die Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, dagegen nicht für die Sozialhilfeleistungen, die nach dem Dritten oder Fünften bis Neunten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für den grundsicherungsberechtigten Personenkreis ergänzend erbracht werden (vgl. jurisPK-SGB XII/Armbruster [Stand: Februar 2015] § 94 Rn. 138). Übersteigt der gesamte Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten seinen Grundsicherungsbedarf – was insbesondere bei stationärer Pflege sehr häufig der Fall sein wird – geht der Unterhaltsanspruch des Berechtigten auch bei bewilligten Grundsicherungsleistungen bis zur Höhe der sonstigen Hilfen nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auf den Sozialhilfeträger über (vgl. Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 166). Soweit aber der Unterhaltsbedarf des Berechtigten von der (fiktiven) Bewilligung von Grundsicherungsleistungen ohnehin nicht gedeckt gewesen wäre, bedeutet der Anspruchsübergang für das unterhaltspflichtige Kind nicht deshalb eine unbillige Härte nach § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII, weil es den Unterhaltsberechtigten wegen des hohen Einkommens von Geschwisterkindern nicht auf die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen verweisen kann. Im vorliegenden Fall geht das Beschwerdegericht ersichtlich davon aus, dass der gesamte Unterhaltsbedarf der im eigenen Haushalt lebenden Antragstellerin im Falle der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen gedeckt gewesen wäre. Hiergegen erinnert die Rechtsbeschwerde nichts.

2. Der Antragsgegner kann dem Unterhaltsbegehren der Antragstellerin indessen den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) entgegenhalten (anders noch Klinkhammer FamRZ 2002, 997, 1003; Günther FPR 2005, 461, 463).

a) Der allgemeine Grundsatz, dass Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuches (§§ 27 ff. SGB XII) nachrangig erbracht wird, gilt im Ausgangspunkt allerdings auch in den Fällen, in denen ausnahmsweise der nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII vorgesehene Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Sozialhilfe ausgeschlossen ist.

§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bestimmt, dass Verpflichtungen anderer, insbesondere Unterhaltspflichtiger (oder der Träger anderer Sozialleistungen) nicht berührt werden. Damit ist klargestellt, dass der Träger der Sozialhilfe dem Zweck der Hilfe zum Lebensunterhalt entsprechend häufig zur Vorleistung verpflichtet ist, wenn ein im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XII Unterhaltspflichtiger seiner Leistungspflicht nicht nachkommt. Die Gewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt hat aber generell keinen Einfluss auf den Inhalt und den Umfang des zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs und der Unterhaltsverpflichtung. Der in § 2 SGB XII verankerte Grundsatz der Subsidiarität wird deshalb auch nicht davon berührt, ob und in welchem Umfang im Einzelfall ein Unterhaltsanspruch nach Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt auf den Sozialhilfeträger übergeht. Hilfe zum Lebensunterhalt kann demgemäß auch in den Fällen eines ausnahmsweise ausgeschlossenen Anspruchsübergangs grundsätzlich nicht als unterhaltsrechtlich bedarfsdeckende Leistung mit der Folge behandelt werden, dass der Unterhaltsberechtigte zur Behebung seiner Unterhaltsbedürftigkeit auf deren Inanspruchnahme verwiesen werden könnte (vgl. Senatsurteile vom 17. März 1999 – XII ZR 139/97FamRZ 1999, 843, 845 f. und vom 31. Mai 2000 – XII ZR 119/98FamRZ 2000, 1358, 1359, jeweils zu § 91 BSHG).

b) Allerdings kann dem Unterhaltsbegehren des Unterhaltsberechtigten der auch im Unterhaltsrecht geltende Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen, wenn ihm nachrangige Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden, ohne dass es zu einem Übergang der Unterhaltsansprüche auf den Sozialhilfeträger kommt.

aa) Dabei gibt es aber keine allgemeine, aus § 242 BGB herzuleitende Treuepflicht des Unterhaltsberechtigten dahingehend, von einer Geltendmachung des Unterhaltsanspruches gegen den Unterhaltspflichtigen abzusehen, wenn dieser Unterhaltsanspruch bei Gewährung nachrangiger Sozialhilfeleistungen aufgrund einer Ausnahmevorschrift abweichend von § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII nicht auf den Sozialhilfeträger übergeht. Denn dies würde bedeuten, die gesetzlich gewollte Subsidiarität der nachrangig gewährten Sozialhilfe mit Hilfe zivilrechtlicher Generalklauseln außer Kraft zu setzen. Vielmehr bedarf es für die Heranziehung des § 242 BGB einer Abwägung der Interessen des Unterhaltsschuldners und des Unterhaltsgläubigers im Einzelfall (vgl. Senatsurteile vom 17. März 1999 – XII ZR 139/97FamRZ 1999, 843, 846 f.; vom 31. Mai 2000 – XII ZR 119/98FamRZ 2000, 1358, 1359 und vom 27. September 2000 – XII ZR 174/98FamRZ 2001, 619, 620).

bb) Von diesem rechtlichen Ausgangspunkt hat es der Senat in den Fällen des § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (Ausschluss des Anspruchsübergangs bei drohender eigener Hilfebedürftigkeit des Unterhaltspflichtigen infolge Zurechnung fiktiver Einkünfte) nicht in Erwägung gezogen, dass der Berechtigte vor der Inanspruchnahme des Pflichtigen zunächst Sozialhilfe beantragen müsste, deren an sich nachrangige Leistungen dann im Falle ihrer Gewährung eine – de facto – bedarfsdeckende Wirkung entfalten. Ein Anwendungsbereich für § 242 BGB war für den Senat insoweit nur für vergangene Unterhaltszeiträume eröffnet, in denen der Unterhaltsberechtigte bereits nicht rückzahlbare Sozialhilfe vereinnahmt hat. Nur in diesen Fällen hat es der Senat für möglich gehalten, unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Rechtsgedanken der unterhaltsrechtlichen Berücksichtigung freiwilliger Leistungen Dritter eine (Teil-) Anrechnung der bereits gezahlten Sozialhilfe auf den Unterhaltsanspruch vorzunehmen, wenn andernfalls die Gefahr für den Unterhaltspflichtigen bestünde, mit derartig hohen Forderungen aus der Vergangenheit belastet zu werden, dass es ihm voraussichtlich auf Dauer unmöglich gemacht würde, diese Schulden zu tilgen und daneben noch seinen laufenden Verpflichtungen nachzukommen. Für die Zukunft sollte sich demgegenüber der Subsidiaritätsgrundsatz uneingeschränkt durchsetzen, zumal die rechtliche Betrachtungsweise darauf abzustellen hat, dass der Schuldner in der Zukunft seiner Unterhaltsverpflichtung nachkommen und die Gewährung von Sozialhilfe an den Berechtigten damit insoweit entbehrlich machen werde (Senatsurteile vom 17. März 1999 – XII ZR 139/97FamRZ 1999, 843, 847 und vom 31. Mai 2000 – XII ZR 119/98FamRZ 2000, 1358, 1359, jeweils zu § 91 Abs. 2 Satz 1 BSHG). In vergleichbarer Weise werden generell auch andere Fälle des ausgeschlossenen Anspruchsübergangs, z.B. nach § 94 Abs. 1 Satz 3, Halbs. 1, 2. Alt. SGB XII (Ausschluss des Anspruchsübergangs bei Unterhaltsansprüchen gegen Verwandte zweiten Grades) gelöst werden können.

cc) An den vorgenannten Grundsätzen hält der Senat fest. Im Streitfall liegen indessen besondere Umstände vor, welche es hier gebieten, über die dargestellten Grundsätze hinaus die Möglichkeit einer Korrektur der gesetzlichen Regelung gemäß § 242 BGB ausnahmsweise nicht nur auf die Unterhaltsrückstände zu beschränken, sondern auch auf den künftig fällig werdenden Unterhalt zu erstrecken.

(1) Zwar ist im vorliegenden Fall die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff. SGB XII unmittelbar dadurch veranlasst worden, dass der Antragsgegner freiwillig keinen Elternunterhalt zahlt, während die Antragstellerin bei Erfüllung der zivilrechtlichen Unterhaltspflichten nicht auf nachrangige Leistungen der Sozialhilfe angewiesen wäre. Diese Erkenntnis allein greift allerdings zu kurz. Denn dass die Antragstellerin zur Deckung ihres notwendigen Lebensbedarfs auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen ist, beruht nicht allein auf den ausbleibenden Unterhaltszahlungen ihrer Söhne, sondern auch darauf, dass sie keinen Zugang zu den gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII vorrangigen und unabhängig vom Bestehen von Unterhaltsansprüchen bedarfsdeckend gezahlten Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch hat. Der Antragsgegner kann die Antragstellerin nur deshalb nicht auf diese Grundsicherungsleistungen verweisen, weil er einen einkommensstärkeren Bruder hat, dessen Bruttoeinkünfte den Grenzbetrag nach § 43 Abs. 3 Satz 1 SGB XII überschreiten. Darin liegt nicht nur aus dem Blickwinkel des Sozialhilferechts eine systemwidrige Härte. Auch das Unterhaltsrecht kann sich insoweit der Beurteilung nicht verschließen, dass die Heranziehung des Antragsgegners zum Unterhalt unter den gegebenen Umständen eine besondere Belastung darstellt, weil der Bruder des Antragsgegners aufgrund seines Einkommens die Antragstellerin von einer anderweitigen Bedarfsdeckung durch Grundsicherungsleistungen ausschließt. Es ist der Antragstellerin daher im vorliegenden Fall nach Treu und Glauben – auch unter Berücksichtigung des Gebots der familiären Rücksichtnahme (§ 1618 a BGB) – zuzumuten, von einer Durchsetzung ihrer Unterhaltsansprüche gegen den Antragsgegner abzusehen.

(2) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht deshalb, weil der Verzicht auf die Inanspruchnahme des Antragsgegners zu einer höheren Belastung des Bruders des Antragsgegners führen würde. Die Unterhaltspflicht gegen den Bruder des Antragsgegners ist – was auch aus dem Rechtsgedanken des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs hergeleitet werden kann – in jedem Fall auf die sich aus dem Verhältnis der unterhaltsrelevanten Einkünfte beider Kinder ergebende anteilige Haftung (§ 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB) beschränkt (Wendl/Dose Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 1 Rn. 707; Wendl/Klinkhammer Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis 9. Aufl. § 8 Rn. 160).

Dose Weber-Monecke Schilling Günter Botur Vorinstanzen:

AG Menden, Entscheidung vom 04.07.2013 – 10 F 286/12

OLG Hamm, Entscheidung vom 17.12.2013 – II-7 UF 165/13

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